Die Digitalisierung ist ein zentraler Baustein einer zukunftsfähigen und demografiefesten Pflege. Sie kommt dort aber nur langsam voran. Die Fragen nach dem „Warum?“ und dem „Was tun?“ standen im Zentrum des Vortrags von Nora Schulte-Coerne, Katharina Kirstein und Dr. Nils Müller auf unserer Jubiläumsveranstaltung.
Ein wichtiges Ergebnis unserer Studie zur Arbeitsplatz-Qualität in der Pflege ist die Bedeutung, die der Digitalisierung als Querschnittsthema zukommt. Alle drei der identifizierten Entwicklungsfelder für den Pflegearbeitsplatz mit Zukunft können von der Digitalisierung profitieren: der Arbeitsalltag ebenso wie die Professionalisierung der Pflege und deren öffentliche Wahrnehmung.
Trotz der berechtigten Diskussionen über ethische Fragen, Datenschutz und eine potenziell problematische Technisierung der genuin menschlichen Tätigkeit Pflege wünschen sich die meisten beruflich Pflegenden eine stärkere digitale Unterstützung ihrer Arbeit. Gerade im Bereich der pflegerischen Versorgung werden jedoch längst nicht alle digitalen Unterstützungen genutzt, die beruflich Pflegende für sinnvoll erachten. Etablierte Technologien werden hingegen von fast allen Befragten als sinnvoll oder teilweise sinnvoll angesehen.
Im Hinblick auf die Professionalisierung bietet die Digitalisierung Potenziale, Strukturen innerhalb der Pflege und in der interprofessionellen Zusammenarbeit neu zu gestalten. Dazu ist eine starke Stimme der Pflege unerlässlich, die sich in die Prozessgestaltung und die Entwicklung und Auswahl neuer Technologien einbringt. Disziplinen wie die „Pflegeinformatik“ bilden dabei eine Schlüsselrolle. Die Ausweitung der Aufgabenbereiche der Pflege auf technologische Fragen unterstreicht in der öffentlichen Wahrnehmung die Expertise der Profession Pflege und macht den Beruf für eine breitere Zielgruppe attraktiv.
Digitalisierung kann die Arbeitsbedingungen in der Pflege grundlegend verbessern
Potenziale für Verbesserungen im Arbeitsalltag durch die Digitalisierung ergeben sich insbesondere in den Bereichen
- Vereinbarkeit von Beruf und Familie
- Qualität der Pflege
- Gesundheitsförderung und Prävention für die Mitarbeitenden und schließlich
- Führung, Kommunikation und Team-Atmosphäre
Mit großen Mehrheiten von knapp 80 Prozent und mehr werden diese Handlungsfelder in unserer Studie zur Arbeitsplatzsituation von beruflich Pflegenden als wichtige Ansatzpunkte angesehen, an denen der Pflegeberuf attraktiver gestaltet werden kann. Damit die Digitalisierung dazu beiträgt, müssen diese Themen bei der Konzeption und Umsetzung von Digitalisierungsprojekten im Mittelpunkt der Überlegungen stehen. Digitale Werkzeuge und Prozesse dürfen dabei nicht dazu führen, dass sich die Arbeit weiter verdichtet. Ökonomische Effizienz kann ein angenehmer „Beifang“ sein, sie darf aber nicht das alleinige Ziel vorgeben.
Schauen wir uns die vier Themenbereiche kurz an:
Digitalisierung kann die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern, indem sie Verlässlichkeit der Planung und die sowohl für die Pflege als auch die Familienarbeit notwendige Flexibilität in ein besseres Gleichgewicht bringt. In unserer Studie zur Arbeitsplatz-Qualität in der Pflege zeigt sich die Planbarkeit als wichtigster Faktor im Bereich Vereinbarkeit: 94 Prozent der beruflich Pflegenden geben an, eine verlässliche und langfristige Dienstplanung würde den Beruf unbedingt attraktiver machen. Für Mitarbeitende ohne Leitungsfunktion spielt auch die Beteiligung an der Dienstplanung eine wichtige Rolle. Eine digitale Dienstplangestaltung kann hier spezifische Wünsche nach freien Tagen oder speziellen Schichten besser berücksichtigen – insbesondere wenn sie auf geeigneten Algorithmen basiert, die den Personaleinsatz im Hinblick auf Qualifikationsanforderungen, Verfügbarkeiten und Präferenzen optimieren können. Gleichzeitig kann sie schneller auf Ausfälle oder Krisensituationen reagieren und das Einspringen transparenter und fairer gestalten. Digitalisierung ermöglicht aber auch räumliche Flexibilität. So können mit einer digitalen Pflegeplanung und -dokumentation Abläufe gestaltet werden, die eine Steuerung von Pflegeprozessen teilweise sogar aus dem Homeoffice erlauben. Auch telemedizinische und telepflegerische Angebote können Wegstrecken reduzieren.
Digitalisierung kann sich ebenso positiv auf die Qualität der Pflege auswirken, die die Befragten als einen weiteren kritischen Bereich für die Verbesserung der Arbeitsplatzsituation in der Pflege sehen: So bietet eine digitale Pflegedokumentation direkt am Bett zu jedem Bewohnenden unmittelbar alle relevanten Informationen auf dem aktuellsten Stand, die auch direkt ergänzt oder angepasst werden können. Auf diese Weise entsteht ein verlässlicher Datenstand, der auch systematische Analysen ermöglicht, wie die Versorgung weiter verbessert werden kann. Darüber hinaus weisen Sensoriksysteme aus dem Bereich des „Ambient Assisted Living“ (AAL) im ambulanten wie stationären Setting sofort auf kritische Situationen hin und ermöglichen so ein unmittelbares Eingreifen. Diverse technische und digitale Assistenzsysteme den Menschen eine längere Eigenständigkeit – in der eigenen Häuslichkeit, aber auch in stationären Einrichtungen. Schließlich eröffnen digitale Anwendungen und Geräte neue Ansätze zur therapeutischen Stimulation und Aktivierung.
Digitalisierung kann auch die Kommunikation in der Pflege auf mehreren Ebenen verbessern: Sie erlaubt es, unterschiedliche Leistungserbringer besser zu vernetzen und relevante Informationen über die Klient*innen auszutauschen. Auch innerhalb der Einrichtungen kann die Kommunikation schneller und zuverlässiger funktionieren, da beispielsweise in spezialisierten Messenger-Diensten Informationen nachgeschlagen werden können. Generell kann hier die Kommunikation auch zeit- und ortsunabhängig stattfinden. Schließlich erlaubt digitale Kommunikation auch eine stärkere Öffnung der Einrichtungen zum Quartier und verbessert so die Teilhabe der Pflegebedürftigen.
Letztlich kann die Digitalisierung die Pflege auch für die Mitarbeitenden gesünder machen: Digitale Systeme können die Mitarbeitenden physisch entlasten, beispielsweise dadurch, dass durch das Wiegen direkt im Bett Bewohner*innen nicht in den Rollstuhl umgesetzt werden müssen oder dass telemedizinische Angebote Krankentransporte mit den verbundenen Transfers seltener notwendig machen. Sensorik-Systeme und Dokumentation am Bett machen zudem zahlreiche Wege oder Kontrollgänge überflüssig. Auf psychischer Ebene reduzieren verlässliche und benutzerfreundliche Systeme die Stressbelastung.
Digitalisierung in der Pflege braucht bessere Rahmenbedingungen
Trotz ihrer Potenziale kommt die Digitalisierung in der Pflege langsamer voran, als beruflich Pflegende sich wünschen würden. Die Gründe dafür sind vielschichtig, lassen sich aber in erster Linie auf ungünstige Rahmenbedingungen zurückführen. Digitalisierungsprozesse sind nicht in erster Linie Beschaffungsprozesse, in deren Verlauf eine Technologie ausgewählt und angeschafft wird und dann „nur noch“ implementiert werden muss. Digitalisierungsprozesse sind komplexe Prozesse der Organisationsentwicklung, die von den grundlegenden Abläufen bis hin zur Qualifikation der Mitarbeitenden alle Bereiche betreffen und entsprechend ernst genommen werden müssen.
Gerade in einem Feld, das so unter ökonomischem Druck steht wie die Pflege, sind Digitalisierungsprozesse auf ausreichende Ressourcen angewiesen. So zeigt unsere Analyse der Kostenstrukturen ambulanter Dienste der freien Wohlfahrtspflege in Brandenburg, dass die Erstattung durch die Pflegekassen schon im laufenden Betrieb oft nicht ausreicht, die entstehenden Sachkosten zu decken. An diesem Punkt setzen mittlerweile erste Fördermöglichkeiten – wie beispielsweise im PpSG verankert – an, die nicht nur die reinen Anschaffungskosten bezuschussen, sondern auch begleitende Beratungsleistungen. Ein noch größeres Problem, das sich zudem auch kurz- und mittelfristig schwerer lösen lässt, ist der Mangel an Personal, das für die Veränderungsprozesse notwendig ist – zumal diese nicht einfach auf der Führungsebene beschlossen werden können, sondern die Mitarbeitenden von Anfang an eng einbezogen werden müssen.
Neben ausreichenden Ressourcen brauchen Digitalisierungsprozesse ein hohes Maß an organisatorischer Kompetenz, um die Prozesse zu konzipieren, zu gestalten und im Anschluss auch nachzuhalten. Die Einführung digitaler Technologie braucht insbesondere in Kernbereichen wie der Dokumentation oder der Prozess-Steuerung ein hohes Maß an Abstimmung zwischen technischer, organisatorischer, betriebswirtschaftlicher und – ganz zentral – pflegefachlicher Ebene. Dazu kommt methodische Kompetenz im Hinblick auf die Entwicklung von Unternehmensprozessen, die Bewertung und Auswahl von Technologien und schließlich auch in der kontinuierlichen Einbindung der Mitarbeitenden. Ist diese Kompetenz bei einer Einrichtung oder einem Träger nicht ausreichend vorhanden, muss sie kurzfristig extern eingekauft werden, was wiederum das Problem mit den finanziellen Ressourcen verschärft. Langfristig könnte und sollte hier die Ausweitung der pflegerischen Ausbildung um eine akademische Komponente Abhilfe schaffen.
Schließlich braucht die Digitalisierung der Pflege auch Produkte, die spezifisch auf ihre Anforderungen zugeschnitten sind, zuverlässig funktionieren und von den Zielgruppen bedient werden können. Dafür muss bei der Entwicklung der Produkte nicht – wie leider zu oft – von der Technologie her gedacht werden, sondern vom Pflegeprozess und den Rahmenbedingungen in den Einrichtungen. Hier ist ein partizipativer Ansatz unabdingbar, der jedoch wiederum Ressourcen bindet, die unmittelbar auch „am Bett“ benötigt werden. Auch hier können akademisch (aus-)gebildetete Mitarbeitende einen entscheidenden Beitrag leisten. Mittlerweile gibt es auch immer mehr Unternehmen, die einen solchen Ansatz verfolgen, hier sind die Einstiegshürden und das Risiko für die Unternehmen aber nach wie vor groß.
Interessieren Sie sich für das Fortschreiten der Digitalisierung in der Pflege?
Brauchen Sie Unterstützung bei der Entwicklung von Förderprogrammen oder übergreifenden Konzepten?
Entwickeln Sie eine Technologie für den Pflegemarkt und benötigen Unterstützung bei der Vernetzung mit fachlichen oder anderen Akteuren?
Den Foliensatz des Vortrags finden Sie hier auf unserer Jubiläumsseite.